I day 09

I Höhe und Tiefe

Die Strassen des heutigen Tages führen uns tief in die Vergangenheit und Gegenwart dieser Stadt. Das Künstlerviertel Užupis durchquerend, vorbei an Verfall und Hochglanz, an sozialem Wohnbau und Holzhäusern für ein, zwei oder mehr Familien, in die Stille eines Waldes. Suchen Wege und Trittpfade im frisch fallenden Schnee. Versuchen uns an die drei weißen Kreuze anzunähern. Müssen immer wieder Haken schlagen, stehen vor Abhängen, bahnen uns unseren Weg durch kaum ausgetretene Pfade. Hören die Stadt rauschen, vom Grund ihrer Geschäftigkeit bis in die Höhen der Hügel. Stehen plötzlich auf dem höchsten Punkt, vor den Kreuzen: klein, sich aneinander schmiegend, stehen sie auf der Anhöhe des Kalnų Parks. Mahnen von sieben im Mittelalter hingerichteten Franziskanermönchen. Erinnern an ihre Abwesenheit während der sowjetischen Besatzung. Beschwören das Recht auf Religionsfreiheit in dieser so offenen Stadt. Eröffnen uns den Blick auf die, vielfach zu zählen versuchten und doch unzähligen, Kirchen. Lesen auf Bronzetafeln von Kasimir, Teresa, Anna, von Michael, Johannes und Philipp – alle Heiligen in Stein und Türme gehauen. Andere Strassen, andere Namen: Pranas. Antanas. Justinas und Vincas. Sie und noch viele mehr ebenfalls in Stein, unvergessen am ehemaligen KGB Hauptquartier. Steigen hier tief hinunter in den Keller. Und damit auch in die schwarzen Jahre der Geschichte in Vilnius. Sehen, hören und fühlen die Kälte, die Anwesenheit der Angst, die Härte des Todes. Durch Zellen für zwanzig Menschen, Kerker, Folterräume mit Eiswasserbecken und kreisrunden Plattformen für gerade einen balancierenden Menschen werden wir mit erklärenden Worten bis zum Erschießungsraum geleitet. Sehen Nachrichten in der Wand. Freigekratzte Fensterscheiben. Hoffnungszeichen. Und Einschusslöcher. Haben zwei oberirdische Geschoße Zeit, Luft zu holen und uns mit den Begriffen „Partisanen“ und „Deportation“ auseinanderzusetzen. In einer Ausstellung wird uns das System des KGB, die Waldbrüder Litauens, das unerbittliche Sibirien näher gebracht. 1940 bis Ende der 1950er sind detailgenaue aufgearbeitete Jahre in der Geschichte Litauens und in diesem Museum. Vor der Türe zu den Jahren bis 1991 werden wir allerdings vertröstet: „Ausstellung in Arbeit“.