I day 10

Erhoffen uns durch die Busfahrten des heutigen Tages einen Überblick verschaffen zu können, wie sich die Stadt von der Peripherie bis hin zum Zentrum aufbaut.

Start unserer Bustour um 12:21

Spazieren in die Trakų gatvė. Verschiedenste Menschenbündel zeugen von Wartebereichen. Versuchen ein System zu entziffern. Entdecken zylindrische Körper, die Zeiten und Nummern von jedem der 360 Grade ablesbar machen. Eine Nummer fährt auf uns zu. Bus 14.

12:21 Bus 14 START Trakų gatvė

Werden in unseren Erwartungen enttäuscht – die Sicht aus dem Bus ist wegen Temperaturen weit unter Null und kondensiertem und eingefrorenem Wasser auf den Scheiben gleich Null.

Versuchen durch Schichten von Kristallen ein Außen wahrzunehmen. Der Laut Plan ist unser Ziel ein südwestliches. Erkämpfen uns einen Platz neben dem Fahrer und genießen das Schaufenster nach vorne. Die Strassen werden schnell breiter, die Autos einnehmender und die Accessoires gleichgeschaltet. Hier spürt man den Achsenplaner, vor seinem Modell, mit Freude an der Sache mit akribischer Genauigkeit stellt er seine Modellbäumchen, im Maßstab 1:1000, an ihre Plätze. Dazwischen noch ein paar Sitzgelegenheiten. Vielleicht ein bisschen Grünraum. Doch die Strassen lassen wenig Zeit zur Beobachtung. Wie ein Fluss, der dich mitnimmt, aus der Langsamkeit der alten Stadt heraus.

STOP (Endstation) Giraltes gatve

Die Endstation. Das Ende unserer Station. Das Ende des Zentrums. Das Ende der Stadt. Bus 14 dreht um und widmet sich wieder dem innerstädtischen Treiben.

Wir steigen um und wollen über die Grenze. An den Fabriken vorbei. Auf die Schnellstrassen. Ab in den Nordwesten.

12:28 Bus 16 START Giraltes gatve

Rotweißrotweiß gestreift sind diese Türme. Die Blöcke rundherum werden größer, mächtiger, einfältiger. Die Konzerne spiegeln das Weiß des Schnees und das Rot und Grün ihrer Werbeschriften wieder.

Ein neuer Bus, eine Aussicht. Werden für unsere Hoffnung auf klare Scheiben mit gut beheiztem Bus und großen Fensterflächen belohnt. Sehen zum ersten Mal „Vilnius Energija“ mit rauchenden Schloten.

Ein Handy klingelt !

Ein Shoppingzentrum. Hinter den Kristallen leuchten Reebock, Nike, Adidas. Dicht gedrängt ist es mittlerweile. Alle Generationen dieser Stadt treffen sich hier. Geschlossene Schulklassen okkupieren diesen fahrenden Raum für sich.

12:30 Überquerung der Neris

Passieren die Architektu Gatve, die einen Kreis um ein neu angelegtes Plattenbaugebiet zieht und sich in neuralgischen Punkten mit der Erfurto Gatve kreuzt.

Durchschneiden die ersten Wohnblockkompositionen. Klingt poetisch. Blicken in die Gesichter der Menschen, die hier aussteigen. Versuchen etwas in ihren Augen zu lesen. Finden wenig Poesie.

Eine sms wird empfangen !

Die Stimme aus dem OFF " televizijos bokštas ".

12:38 STOP televizijos bokštas (soundfile)

Inmitten dieser Betonriesen. Staunen in der Enge der Wege. Bekommen kaum genügend Abstand zu den Fassaden. Über den Dächern thront der Fernsehturm. Nähern uns der Spitze und nach kleinen Umwegen auch dem Eingang dieses Komplexes. Kreuze erinnern an die Toten der Januartage. Stolz stehen diese Zeichen aus der Vergangenheit und prägen das heute, in gemeinsamer Vertikalität mit dem berühmten Turm.

Suchen uns durch sozialistische Wohnbebauung und Hinterhöfe unseren Weg zum Fernsehturm, den wir aus der Ferne lokalisieren konnten. Stehen vor den Holzkreuzen und dreizehn Bildern der Menschen, die am 13. Jänner 1991 hier den Tod fanden. Dahinter ein dicht gewebter Maschendrahtzaun, der uns rings um den Turm leitet. Müssen uns den Eintritt in die Fernsehwelt erst verdient machen und suchen rund um den Zaun herum nach dem Eingang. Gefunden. Aus der beißenden Kälte in den Sockel des mehr als 360 Meter hohen Turmes.

12:58 Eintritt in den Fernsehturm, mit dem Lift in den 19. Stock, Mittagessen, Begeisterung.

Der Blick fesselt. Man möchte mit einem Styrocutter hunderte Blöcke ausschneiden, sie aneinander reihen und versuchen diese Dichte zu erreichen. Sie verschmelzen mit dem Schnee, heben sich nur durch feine Nuancen von der Horizontalen ab. Eine Weite wird spürbar, auf 165m Höhe. Drehen uns bei Tee, Fisch und Paprika innerhalb einer Stunde 360° im Uhrzeigersinn. Wälder. Dann die Altstadt mit hunderten Kirchturmspitzen. Kleinteilig, verwinkelt, verspielt blinzelt sie zu uns nach oben. Drehen uns von ihr ab und machen, nun mit nötigem Abstand, die Architektu gatve örtlich fest. Hier hat wohl jemand ein Viertel entstehen lassen, gesamtheitlich und kompakt. 2 bis 3 Typologien, verbindende, weitläufige, kreisrunde Straßenverläufe und Grünraumverteilungen mit Hilfe des geschätzten Programmes Exel. Lassen nochmal unsere Blicke schweifen und verabschieden uns von Stockwerk 19. 165m bewegen sich unsere Mägen wieder bergab.

Ein Restaurant mit Tischkojen, die sich innerhalb einer Stunde entlang der Scheiben um 360 Grad drehen. Ignorieren das Fotografierverbot und sind für diese Stunde gefangen von den sich verändernden Ausblicken auf ein sehr weitläufiges, dichtes und von grünen Hügeln durchzogenes Vilnius. Entdecken die Landschaft hinter der Stadt, die eng beieinander sitzenden Wohntürme. Von hier sind plötzlich die sonst so dominanten Kirchtürme der Stadt nur mehr unauffällige Spitzen in der Innenstadt – das Vilnius, das von hier aus sichtbar wird, ist viel karger, größer, spröder.

14:02 Verlassen des Fernsehturmes, frieren, warten auf den Bus Nr.16, um damit bis zur Endstation im Nordnordosten der alten Stadt zu fahren

Finden unsere Bushaltestelle wieder und "hop(en) wieder on".

14:17 START televizijos bokštas

Blöcke neben Blöcke neben Blöcke. Entdecken Kassettenmodule, die wir auch von der Montanuni in Leoben kennen. Kleiner, großflächiger und vervielfältigt auf einige Baukörper entlang unserer Strasse.

Die Fensterscheiben voller Eis zwingen unsere Aufmerksamkeit auf kleine Sichtinseln, durch die wir kleinere Einkaufszentren, Schulkinder, Wohnungsbauten vorbeiziehen sehen.

14:24 STOP Pašilaičių žiedas

Die Minusgrade setzen uns sehr zu. Versuchen uns über den Norden der Stadt wieder dem "Kern" zu nähern.

Ein kleiner Busbahnhof, inmitten dieses nicht zentralen Vilnius. Eine Temperaturanzeige an einer kleinen Hütte. Dahinter ein Feld, ein angrenzender Wald. Die offene Landschaft ist hier oft nur einen Schritt über den Bordstein entfernt.

14:27 Wieder in den Süden mit Bus Nr.19 START Pašilaičių žiedas

Eine Begegnung im Bus mit einem alten Mann, einem Journalisten. Er erzählt uns von Walzer, seinem brüchigen Englisch und vom Park am Hügel links, wo man Champignons sammeln kann. Die Natur in dieser Stadt findet sich nicht nur am Rand. Er sucht mit Hand, Fuß und seiner Nachbarin nach den richtigen Ausdrücken, doch auch ohne Worte wird er verstanden.

15:02 STOP Europos aikštė

Durch die Fußgängerunterführung auf die andere Straßenseite, den Menschen nach, gelandet im Europos aikštė.

15:04 Europos aikštė (Shoppingcenter - Einkaufspalast Europa im neuen Europas Centras von Vilnius)

Schon die letzten Tage unseres Aufenthaltes in dieser Stadt. Müssen das vielfach Abgebildete mit eigenen Augen sehen. Suchen den Innenraum. Die elliptischen Eier. Die Menschen, die darin ihren Café schlürfen. Im Eingangsbereich eine AirBaltic Werbetafel. Rot blinkend sollen angeflogene Städte ins rechte Licht gerückt werden und wir erfahren erst heute dass Wien in Tschechien liegt. Das Vertrauen in AirBaltic wächst und wächst.

Neues Design und neues Kapital, neues Selbstbewusstsein und neue, westliche Marken. Die Menschen haben sich verändert – High Heels statt warmer Schneestiefel, Pelzhauben statt wolligen Kopftüchern. Wie Emporen schweben zwei augenförmige Boxen im Luftraum des dreigeschossigen Gebäudes. Sehen und gesehen werden.

17:02 Bus 2 (blau) START Europos aikštė

Genug an Mikroklima konsumiert, suchen wir uns wieder unseren Weg zurück an unseren Ausgangspunkt mit dem Bus. Wiederum können wir durch die Eisblumen am Fenster und die rauschenden Ansagen nur erahnen, durch welche Strassen wir uns gerade bewegen.

Rush hour. Alle wollen nach Hause. In den Autos. In den Bussen. Stehen im Stau und fahren in die falsche Richtung. Sind etwas gefangen zwischen all den Blechhüllen.

17:24 STOP Sparta (weil verfahren)

Nicht nur die Sicht nach außen war uns verwehrt, auch der Unterschied zwischen blauen und roten Linien. Deshalb retour und einen neuen Busweg suchen.

Versuchen sinnvoll umzusteigen.

17:28 Bus 19 START Sparta

Zum Busbahnhof strömen die Pendler und Umsteiger und man neigt zu Atemnot.

Durch immer dichter und innerstädtischer werdendes Gebiet direkt zum Busbahnhof, mitten in die ununterbrochene Lebhaftigkeit dieses Umschlagplatzes der Verbindungen.

17:28 Bus 19 STOP Autobusų stotis (Busbahnhof)

Busse wollen nicht für uns stehen bleiben. Rennen im Kreis. Verstehen das System. Steigen ein.

17:34 Bus 2 (rot) START Autobusų stotis (Busbahnhof)

Die Atemnot wird fast unerträglich. Mischt sich mit Gerüchen aller Art.

Der letzte Bus dieses Tages, vorbei an Jugendherbergen, der Markthalle, der Synagoge. Bekannte Wege aus den letzten Tagen vermischen sich mit der neuen Geschwindigkeit und deren Bildern.

Ein Handy klingelt !

17:48 STOP Trakų gatvė

Raus in die Kälte, in die Stadt, wieder im Zentrum gelandet. Sind schon fast heimisch hier. Entdecken den Bäcker unseres Vertrauens und steigen aus.

Zu Fuß mit der Wärme der Busse in den Gliedern nach Hause.

17:59 St.Ignoto 16

Ein Treffen auf der Strasse mit unserem Wohnungsbesitzer. Er rät uns, diese Nacht zu feiern, er soll minus 27 Grad haben. Das passiert wohl hier auch nur einmal im Jahr.